Filmformate

Allgemeines zu Filmformaten

Breitwandträume in Millimetern: Von der Illusion zur Kontemplation
von Jean-Pierre Gutzeit, M.A. (Berlin)

Rückzug in der Gegenwart

Zeitgleich zur Globalisierung vollzog sich auch eine allumfassende „Digitalisierung“.
Haben perforierte „Laufbildfilme“ in vernetzten Kommunikationssphären ausgedient?
Glaubt man den industriefreundlichen Prognosen in nicht wenigen Medien, bestand
das 20. Jahrhundert aus flimmernden, verwackelten, unscharfen, verschrammten
und farbverdrehten Zelluloidexperimenten hermetisch abgeschlossenerer
Schaubudenbetriebe, die heutigen Ansprüchen nicht mehr genügten.
Lotet man dagegen das volle Gesichts- und Hörfeld des Menschen im Sinne
kinematographischer Umhüllungsstrategien aus, die dereinst Ideal der tradierten
kinotechnischen Ideen waren, geht mit der Multimedialisierung auch eine von
Umhüllung abweichende, wieder „zugeschnürte“ Blicklenkung des Rezipienten
einher: die Immersionserfahrung fällt bisweilen noch hinter einige
kinematographischen Einfühlungsstrategien des 20. Jahrhunderts zurück, so dass
eine neue „Starrheit“ des Blicks, der die Bilderfahrungen auf Laptops und den Handy-
Filme einsammelt, uns zum Betrachter virtueller Unverbindlichkeiten ebenso wie zum
Nachfolger des Fernseh-„Zappers“ machte, wir wieder zum Guckkasten-Flaneur
wurden. Der Blick in den panoramatischen Kunsterfahrungen, grundiert von
dezentrierterer Konzentration, weitschweifiger Kontemplation und ganzheutlicher
Immersion entlang des Panoramabildes, hat sich in der heutigen Schaulust am
Spektakel auf die Ebene der virtuellen Varianzen und Content-Häppchen verlagert.
Aufbruch zu den Tempeln
„Bigger Than Life“ zu werden hebt sich das Guckasten-Kino erst 1952 an, nachdem
kartellrechtliche Beschränkungen („Anti Trust“-Gesetze) die Mittelware ausdünnt und
die Blind- und Blockbuchung untersagt, aber zeitgleich aggressive Fernsehkultur in
kritischer Masse durch Absorptionen der Mittelware die Kinosäle verwaisen lässt.
Cinerama auf halbrunder Bildwand (dargeboten in 3-streifiger 35-mm-Projekton) wird
als neue kinematographische „Wunderwaffe“ Millionen in die Metropolen locken und
außerdem als Kind Hollywood-unabhängiger Produzenten die großen Studios
alarmieren.
Die Ideale der nacheifernden, unterschiedlich teuren und komplizierten
Breitwandverfahren folgen zumeist einer zeitspezifischen „Bildanmutung“:
Hervorstechendste Wirkungsmerkmale sind reliefartige Modellierung von Dekor und
Design, tiefenscharf ausleuchtende Photographie sowie entfesselte Aktionsebenen,
die förmlich nach haptisch erfahrbarem Abbildrealismus schielen. In der
Spektakelphase der Breitwand-Initiation neigt das Genre zudem zu mythischer
Überhöhung und Legendenbildungen in den zumeist religiösen oder historischen
Sujets.
Die den ab 1955 aufkommenden 70mm-Bild- und Tonformaten innewohnenden
Special Effects (in den 1950er Jahren „Anwesenheitseffekte“ genannt) zeigen uns
Kontraste auf, sei es einerseits zum tradierten Kinofilm (auf konventionellem 35-mm-
Normalfilm), zur heutigen, fernsehkompatiblen Aufnahmeästhetik, zum graphischvirtuellen
Compositing der „computer generated images“ oder zur unzureichend
aufgelösten digitalen Projektion und Bildaufnahme in 2009.
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Das Distributionsprinzip einer 70mm-Roadshow konzentriert sich fortan auf
Luxuskinos der Großstädte – auf Roadshow-Theater. Sogar ein „Fenster zur Welt“
wird in der Reklame suggeriert (ein Schlagwort, mit dem bspw. Metro-Goldwyn-
Mayer ihren Breitfilm-Prozeß MGM Camera 65 propagiert): Durch einen die gesamte
vierte Wand einnehmenden, analog zur Bildwand stark konkav geschwungenen
Vorhang reißen die Horizonte förmlich auf, verkünden die Verleihstrategen. Für den
Soziologen, der hinter jeder „Fassade“ nach Realität und Wahrheit sucht, beweisen
sich Kinotempel der hypertrophen Leinwänden allenfalls als Illusionsverstärker: das
Übergrosse, Prächtige, Weihevolle und Erhabene bediene dort ein sich passiv
hingebendes Publikumskollektiv, heißt es anprangernd. Wenn in ihnen als „Altar“
eine Konkavbildwand fingiert, ist diese immer auch kulturhistorisch ein Derivat der
Panoramen des 19. Jahrhunderts und auch der kirchlichen Kuppeln: sie gilt jedoch
im heutigen Filmtheaterbau und in der Filmtheorie als Kuriosum der 1950er/60er
Jahre, als Mode und verfehlte Technikinnovation, wenn sie ohne perspektivische
oder bildkompositorische Legitimation verharrt; sie ist aber auch manchem Techniker
ein Dorn im Auge, weil fast immer Projektionsverzerrungen auf ihr an der
Tagesordnung sind.
Vergessen wird von den Distanzierungsbewegten, dass neben dem Raumton, heute
als Surround-Sound umbenannt, auch ein Raumbild, ja, wenn man will, eine
Surround-Bildwand ein Analogon zur menschlichen Wahrnehmung darstellt, deren
Potential durch die Normalwand nie hinreichend ausgeschöpft wurde.
Erweiterte Tiefenschärfe
Die Bildschärfe zerfällt begrifflich in technische Parameter und gestalterische Mittel.
Von Ausschlag aber sind die Entscheidungen vieler Filmemacher, wonach eine
naturalistische Bildaufnahme den Wünschen nach Transformation des real
Vorgefundenen entgegensteht und die poetologischen und imaginativen Konzepte
durch kalten Abbildrealismus ersticke.
Die erweiterte Tiefenschärfe ist skeptisch zu betrachten, ist doch der Fetisch der
raumtotalen Soghaftigkeit als Gimmick auch dem frühen Entertainment- und
Schaustellergewerbe zu eigen. Nach dem Zusammenbruch des tradierten US-Studio-
Systems Anfang der 1960er Jahre und der aufstrebenden Nouvelle Vague
wird die „Tiefenschärfe“ neuerlich gleichgesetzt mit Positivismus, mit Abspiegelung
von Natur und „Langeweile“, denn in ihr entäußere sich noch nicht die Sprache eines
auteurs – so dass dieses Gestaltungsmittel in der heutigen Bilderkultur auch immer
weniger präsent erscheint.
Dem Breitwand-Format ist ein selbstständiger Bildraum oder Handlungsraum mit
mehreren Zentren inhärent. Es finden sich daher durchaus Impulse schon bei
Arnheim, die später in den Essays des englischen Filmhistorikers Charles Barr, der
die Breitwand gründlicher analysiert, noch differenzierter artikuliert werden.
Stilistisch steht zum Beispiel im Schwarzweiß-Film den 1940er Jahre die
Beleuchtung von Hintergründen auf ihrem Höhepunkt, insbesondere im Film Noir.
Technisch ist die forcierte Ausleuchtung u.a. durch den Kodak Negativfilm Plus-X der
Type 5231 mit noch geringer Empfindlichkeit bedingt, aber dessen Nachfolgetype Tri-
X der Kodak-Type 5233 ist bereits mit einer Empfindlichkeit von 250 ASA ab 1954 für
Fernseh- und Dokumentarfilm entwickelt worden, in denen geringe Ressourcen an
Ausleuchtungen vorherrschten – was zu einer Verflachung des Bildfeldes führt. Beim
Farbfilm vollziehen sich ähnliche Prozesse beim Eastmancolor-Negativverfahren
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Kodak-Type 5247, das 1950 mit 16 ASA eingeführt wird, aber bereits 1953 durch das
Material der Type 5248 mit 24 ASA (sowie durch den für Mehrschichtenfarbfilme
neuartigen Duplikatprozess) erweitert wird, dem sich 1959 mit der Type 5250 bereits
das noch heute gern verwendete 50 ASA-Material hinzugesellt.
Obwohl die aufwändigen Breitwandfilme der 1950er Jahre noch ein ausgefeiltes und
gesteigertes Beleuchtungskonzept verfolgen, das dem Anspruch des Breitwandfilms
an „plastisches Sehen ohne Brille“ gerecht werden wollte und die Schärfentiefe
überbetonten, so ist doch der Trend zur Einsparung von Lichtsetzung und der daraus
resultierenden Verflachung des indexikalisch erfassten Bildraums unaufhaltsam, wie
schon der amerikanische Medientechnik-Wissenschaftler Barry Salt beschreibt. Die
Spielfilmbranche betreibt seit 1970 eine sukzessive Abkehr von inversiven
Breitwand- oder Großbildprojektionen zugunsten fernsehkompatibler Aufnahme- und
Wiedergabeverfahren, und das deutet auf ein ausgesprochen kurzsichtiges
Verwertungskalkül der Produzenten und Verleiher hin. Mit der Verflachung der
Gradation der Aufnahmematerialien setzt eine Epoche der intentional oder
unfreiwillig in kaufgenommenen „diffusen“ Kinobilder ein, die gerade von den
Verfechtern der Goldenen Ära des 70-mm-Kinos abgelehnt wird.
Als Prognose nach der Jahrtausendwende kann festgehalten werden, dass die
lawinenartige Entwicklung der Chip- und Halbleitertechnik inzwischen
Marktmechanismen in Gang gesetzt hat, die auf eine generelle Ablösung des
Filmbandes in Aufnahme und Wiedergabe drängen, noch bevor äquivalente
Standards geschaffen werden konnten.
Wider die Ästhetik des Panoramafilms?
Der frühe Breitwand-Film der 1950er Jahre macht den noch vom französischen
Poststrukturalisten Gilles Deleuze auf die Großaufnahme (und die ihr entsprechende
Normalwand) beschränkten Affekt rar und widersetzt sich der tradierten
Montagetheorie. Erst die 1960er Jahre holen die Affizierung durch die
Großaufnahme zurück.
Eisenstein behauptet als Filmemacher und Theoretiker seine Autonomie zu den
filmischen Standards. Er ist ein Gegner des Naturalismus, denn dieser betreibe über
ein nur spiegelbildlich abbildendes Medium Kannibalismus an der Realität, womit der
Einverleibung des rohen Realismus (anstelle eines den „Inhalt“ nachahmenden und
transformierenden Realismus) Auftrieb verliehen werden. Er beklagt 1929 auf einer
Konferenz der amerikanischen Society of Motion Picture Engineers (SMPE) eine
„Unterjochung des Geistes durch Konvention und Routine“ und – hoch aktuell – die
Dominanz des Tons vor visueller Entfaltung, die außerdem durch eine unsinnige
Ausweitung des Bildwandrahmens blockiert würde. Die Lösung böte das
„dynamische Quadrat“.
Im Normalformat ist der Raum – auch der junge Kunstspsychologe Rudolf Arnheim
huldigt dessen Ästhetik – noch traditionell dramatisch gebunden.
Anders als Georges Sadoul, der marxistische Theoretiker, rekurriert der Linksliberale
André Bazin auf einen idealistischen Impetus des filmtechnologischen Fortschritts
und hebt den Ursprung des kinematographischen im Naturalismus der 19.
Jahrhunderts hervor; Bazin kehrt ihn gar gegen die Linearität des Materialismus. Der
ungarische Medienästhetiker Béla Balázs definiert den Vorgang der Kamerafahrt
bereits als sogenanntes „Panorama“ und stellt sie gegen die totale Einstellung (was
eine weitwinklige und raumgreifende im noch kommenden Breitwand-Film
einschlösse), aber andererseits auch gegen die Aufteilung durch Schnitte. Anfänglich
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noch einer Huldigung der Physiognomie in Landschaften und Dekorationen des
Stummfilms frönend, wird nach Balázs später die „Zeigefinger“-Funktion der
Großaufnahme (bis hin zur mikroskopischen Aufnahme) sowie der produktiven
Montage zum wichtigsten filmischen Gestaltungsmittel.
Der frühe Breitwand-Film nun macht die Affekte der Großaufnahme, rasanter
Schnitte oder des Hin- und Herschwenkens rar und widersetzt sich der avancierten
Montagetheorie. Viele auch zeitlich „gedehnte“ Einstellungen werden im
„klassischen“ Breitwand-Film jedoch durch komplexe Kamerafahrten und
Raumstaffelungen dynamisiert. Ein einerseits abbildungsrealistisches, andererseits
auf technische Leistungsschau und markante Stilisierung beharrendes „Fenster zur
Welt“ öffnet sich, hinter dem sich letztlich nur wieder filmische Phantasmagorie und
nicht die Wirklichkeit enttarnen lässt.
Die dramatische Wucht tiefenscharfer Bildstaffelungen liegt, das wäre hier zu
verteidigen, in der Dynamisierung von entgrenzten Räumen: in der Konstruktion einer
vielseitigen Interaktion zwischen Mensch und Umwelt, Massen und Apparaturen.
Die Autoren der Cahiers du Cinéma haben stets das Illusionäre bewundert wie
dessen Grenzen entlarvt, denn jede Idee des Perfekten widerspräche dem Geist des
Films: Filmisch werde erst das, was einen platonischen Gehalt und somit Kunst
entstehen lasse. Indem der französische Regisseur Jacques Rivette das Theater (die
„Sprechbühne“) ins Kino zurückholte, wollte er auch das Moment des Unmittelbaren
dem Film zurückgeben, so die französische Rezeption.
Der britische Theater-, Opern- und Filmregisseur Peter Brook projiziert darüber
hinaus eine Re-Sakralisierung der bürgerlichen Gesellschaft und des Melodrams des
19. Jahrhunderts in die Schaukulturen der Gegenwart: und genretypische
Etikettierungen teurer Breitwandfilme als Epos, Oper, Spektakel, Monumental- oder
Kolossalwerk und nicht selten die despektierlichen Plaketten „Sandalen“- und
„Kirchenfilm“ oder schlicht „Historienschinken“ kommen nicht von ungefähr.
Formate im Kreuzfeuer der Kritik
Die Breitwand als Bildformat ist durchgesetzt; nur ihre apparative Umsetzung (Filmund
Videoformate) ist ständig neu zu erfinden. Rein technologische Parameter
beleuchtend, sind ab 1953 die Scope-Systeme auf der Filmschnittbreite des
Normalfilms von nur 35-mm ein Rückschritt, weil das Leinwandbild massiv in die
Breite getrieben wird, durch die extreme Vergrößerung und Verzeichnung aber auch
unschärfer, körniger und diffuser wirkt – was bis heute auf Leistungsdefizite der
anamorphotischen Optiken sowie die begrenzte Auflösung des 35-mm-Normalfilms
zurückzuführen ist, ein Umstand der erst durch die Wide-Gauge-Verfahren, u.a. auf
70-mm, schlagartig gelöst wird.
Die Überdehnung des Breitwand-Horizonts neigt in der Frühzeit zum Symbol: Die
frühen Scope-Bildkompositionen gaben sich ostentativ ebenso dem Drall zu den
Flanken hin, und sie ergänzten leichtgewichtig die kommerzielle Lücke im
Spielfilmkino, zumal ein Spielfilmdreh im 3-streifigen Cinerama-Prozeß in der
Massenproduktion keine Zukunft zu haben scheint. Die Scope-Filme verzichten
allerdings auf das „starrere”, dafür aber hypnotisierend-raumgreifendere Cinerama-
Feeling mit seiner totalen Umhüllung und Überreizung des Sehwinkels.
Das ästhetische Verdikt der vornehmlich vom westeuropäischen Avantgarde-Film
beeindruckten Filmkritik gegen Cinerama, Scope usf. bleibt nicht aus: Ein
„Vollstopfen“ des Rahmens bewirke nur wieder eine Verdopplung des Rahmens, und
– andersherum – vielmehr das Spiel mit dem Gegensatz des Pomps entfache eine
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szenische Wirkung: erst die ostentative Leere im Rahmen referenziere über diesen
hinaus, wie man es in späteren Wide-Screen-Filmen u.a. von John Sturges, Nicolas
Ray, Jean-Luc Godard oder Akira Kurosawa im jeweiligen Breitbildformat entdecken
könne. Zu entdecken sei an den Filmen der Verkargung, so der Filmsemiologe
Norbert Grob, der „Außenraum zu den Flanken der Leere“, der Erlösung und Freiheit
verheiße (er bezieht sich auf eine Analyse des ersten Scope-Films THE ROBE). In
seiner „Ästhetik des Verschwindens“ vergleicht Paul Virilio den Kinosessel übrigens
mit einem Rollstuhl, der vor einer in eine Zeitreise abtauchende Kamera gefesselt sei
und prophezeit: „Die Filmindustrie wird in eine Krise geraten, sobald sie aufhört,
einen falschen Tag zu erzeugen, und sich stattdessen darum bemüht, realitätsgetreu
zu sein. Das Drehbuch wird realistisch, die Schauspieler werden gewöhnlich, die
Farbaufnahmen wirken echt, Cinemascope oder Panoramakino – alles soll
Aufmerksamkeit auf sich lenken, bis zur rasenden Kamerafahrt, die den Seh-
Reisenden fast schwindlig werden lässt, als wäre er auf der Achterbahn oder säße in
einem Rennwagen.“
70-mm – die größte Schau der Welt?
Die 70-mm-Todd-A-O-Produktion ab 1955 führt in einer Sublimierung der
Formatanforderungen die Ansätze von Scope, Cinerama und VistaVision als
Synthese zusammen, gleichsam zur perfektionistischen Attitüde. Sowohl im Genre
der Bibelfilme als auch der Musicals und des Westerns werden Immersions-
Tendenzen des Überwältigungskinos auf die Spitze getrieben, um das Kino der
Attraktionen im Gewand opernhafter Inszenierungen wiederzubeleben.
Die in jahrelanger Produktionsvorbereitung generalstabsmäßig vorangetriebenen
Langfilme wurden so augenfällig zur Rekordausstattung und zur optischen
„Makellosigkeit“ geführt, dass ihnen in der Kinematographie-Geschichte jahrelange
Laufzeiten und zahllose Reprisen sicher waren.
Durch höchste Bildauflösung und unverzerrte Abbildung von „kristallklaren“
Bildtableaus lösen sie einen Sog auf den Zuschauer aus. Bei nahezu ausgefülltem
Gesichtsfeld des Zuschauers werden überbordende Details und Szenenstaffelungen
in erstaunlicher Klarheit näher mit dem Zuschauerraum verbunden. Bereits eine
leicht nuancierte Bewegung der geführten Kamera, ein vorsichtiger Schwenk, wird
(schon aufgrund des Eigengewichts der Kamera) unmerklich in somatische
Eigenbewegungen des Zuschauers übertragen und als Moment der Teilhabe
umgesetzt, die in Extremsituationen sogar körperlich empfunden werden kann (man
denke auch an 70-mm-Folgeverfahren des Jahrmärkte und Weltausstellungen), ohne
dass es wie beim 3-D-Film zu profanen taktilen Reflexen führt. Bildseitenverhältnis,
Auflösung, Betrachtungs- und Aufnahmewinkel, aber auch Projektionsgröße und
Bildwandkrümmung bestimmen hierbei die Modi der Montage: das große und breite
Bild „stiehlt“ Raum und „frisst“ Zeit; es gebietet Ruhe, Überschaubarkeit und Zeit bei
der Rezeption. Kurzen Phasen konzentrierter Information und Suggestion folgen
lange Phasen der Reizreduktion, was sich auch im reduzierten und pointierteren
Schnitt-Rhythmus in den klassischen 70-mm-Filmen äußert, ohne dass dabei die
mise en scène in Statik und Langeweile absinken muss: das 70-mm-Verfahren
steigert vielmehr die gebündelte „Konzentration“ und die sinnlich-physiologische
Aktivität, es hebt die Trennung zwischen Zuschauerraum und der „vierten Wand“, der
Bildwand, tendentiell auf. Die Hypoertrophie des Anspruches manifestiert sich in der
Demonstration der Wirkungsweise der sog. „bug-eye lens“, die teils soghafte, teils
kuriose Wirkungen ans Tageslicht bringt. Die Szene etwa mit Passepartout als
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„Schienensegler“ auf ein Hochrad in AROUND THE WORLD IN 80 DAYS (USA
1956) zeugen hiervon, aber auch das Einreiten des „Kriegspabstes“ auf dem
Marktplatz in THE AGONY AND THE ECSTASY (USA 1965) und die
Bahnhofssequenz am Anfang von OKLAHOMA! (USA 1955). Im Todd-A-O-System
Super Panavision 70 machen sich Weitwinkeleinsätze rarer und kennzeichnen auch
einen „Pragmatismus“ der 1960er Jahre, die gängige Palette filmsprachlicher Mittel
im Spielfilm auch für „Large Formats“ nutzbar zu machen, ja deren Showeffekt
zunehmend zurückzunehmen. Der „Effekt“ des Weitwinkeleinsatzes bei Super
Panavision widerspricht der bug-eye-lens und deren Verzerrung nach dem
„Hohlspiegel“-System: die Ränder krümmen sich nicht, sie „fliegen“ auseinander –
ein Effekt, der sich an den Bildrändern stark gebogener Bildwände noch weiter
verstärkt. Die Auto-und LKW-Szenen in EXODUS (USA 1960), aber auch die
Einsätze der Hand-held-Kameras in GRAND PRIX (USA 1966) und einiger Szenen in
2001: A SPACE ODYSSEY (GB 1968) zeugen davon. Denen stehen wenige, aber
um so eindringlicher vorstoßende Close-ups wie in KING OF KINGS (USA 1960)
oder die Einschnürung des Feldherrnblicks über die Fernrohrperspektive in PATTON
(USA 1970) gegenüber. Otto Preminger, ein jüdisch-österreichischer Regisseur, der
ebenfalls als Exilant seit Anfang der 1930er Jahre in Hollywood angekommen war
und seit RIVER OF NO RETURN (Fluß ohne Wiederkehr, USA 1954, CinemaScope)
oft als ein „Wollüstiger“ der Breitwand bezeichnet wurde, lässt seine 70-mm-
Produktion PORGY AND BESS (Porgy und Bess, USA 1959, Todd-AO) mit einem
Ensemble-umkreisenden „establishing shots“ beginnen, mit dem er visuell-akustisch
den Marktplatz von Catfish-Row in 360-Grad-Schwenks erforscht. Kameramann
Leon Shamroy beschwört innerhalb der bühnengemäßen Ausgestaltung jener
„Filmoper“ in ausgeklügelten Einstellungen die Abkunft des von ihm verwendeten 70-
mm-Todd-A-O-Verfahrens: als Segment der Rotunden oder Panoramen vergangener
Epochen, oder auch als Anspruch von Bildrepräsentanz, die Preminger, so der
Filmtheoretiker Karsten Witte einmal einwendend, eklektisch wie in einem großen
Schaufenster weiterführe.
Der englische Filmhistoriker Charles Barr, nach dem er von EXODUS überwältigt
wurde, erwartete im gleichen Jahr noch höchst optimistisch eine Ablösung des 35-
mm-Scope durch die technologisch höher stehenden 70-mm-Produktionen – was
bekanntlich eine oft kolportierte Utopie blieb und heute aus Kompatibilitäts-
Interessen sowie im Zuge einer totalen Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche
(oder kurzum: aufgrund von Unvermögens der Filmemacher zu einer avancierteren
photographischen Gestaltung am Set) auch auf Gegenwehr stoßen würde.
Die einzige nennenswerte Weiterentwicklung von 70-mm-Todd-A-O, das 70-mm-
Imax-Verfahren seit 1969 bis in die Jetztzeit, sprengt zwar hypertroph den Rahmen
des theatralisch und optisch Möglichen im Kino, es verharrt aber regressiv im
Schausteller-Gebaren: die Geschichte der Kinematographen kehrt in Imax zu den
Anfängen zurück. Christian Metz sinniert: „der kinematographische Fetischismus
kehrt zurück“.
Schon das Aufkommen von Panorama und Diorama zeugt von einer Aufhebung alles
„Trennenden“ im Zurschaugebotenem: in der Imax-Produktion wird jener Sehakt in
die horizontale und vertikale Totalerfassung des Gesichtsfeldes („Umhüllung“)
überführt: sie enthüllt sich in der Verdichtung der raumbildlichen Overkills, um Hörer
und Betrachter neuartigen Sinnesreizen auszuliefern, die die Natur selbst (und das
klassische oder experimentelle Kino am wenigsten) schon nicht mehr hergeben.
Das Imax-Verfahren entzieht sich somit einer künstlerischen Transformation seines
Rohmaterials ebenso wie den klassischen Formaten der Breitwand und des
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Breitbildes. Die letzte „Bastion“ des Roadshow-Kinos und des Breitfilms soll in den
Jahren 2009/2010 auf digitale Projektion umgestellt werden, für die aber keine
adäquaten Bildwerfer bereitstehen, so dass neue Imax-Theater ihre Bildfläche bereits
halbiert haben.
Der Hang zu gekrümmten Breitbildwänden und – später u.a.im Imax-Verfahren – zu
Kuppelbildwänden stößt auf nicht wenige Bedenkenträger: Die frühen Vorführungen
von Ultra-Panavision-70- Filmen in der Aspect Ratio 2.75 werden – entgegen der
Praxis bei Todd-AO-Filmen – auf flachen Bildwänden ausgetragen; John
Frankenheimer schließlich beklagt, dass sein auf Cinerama-Bildwänden
ausgewerteter Film GRAND PRIX (Grand Prix, USA 1966, Super Panavision 70)
Verzeichnungen durch die Projektion zutage brächte, die nicht mit dem
photographischen Konzept vereinbar seien; David Lean lässt aus denselben
Gründen anlässlich der Aufführung der restaurierten Fassung von LAWRENCE OF
ARABIA (USA 1988) die Konkavbildwand des Londoner Kinos Odeon Marble Arch
gegen eine flache austauschen; Imax erlebt seit den 1990er Jahre einen Rückgang
seiner Kuppelprojektionen zugunsten von 3-D-Filmdarbietungen oder der
Digitalisierung seiner Häuser.
Allerdings entwickelt Richard Vetter 1964 für die Dimension 150 Inc. eine zylindrisch
konstruierte Projektionsoptik für 70mm-Todd-A-O-Filme, die auf stark gekrümmten
Breitleinwänden die Randverzeichnungen so wie den Bildbeschnitt im Kopf- und
Fußraum weitgehend korrigiert, aber kaum Verbreitung findet: verwendet wird diese
Optik heute nur noch im National Media Museum in Bradford, die auf ihrer Cinerama-
Bildwand auf diese Weise einwandfreie 70-mm-Projektionen anbieten können.
Restaurationen & Revivals
Mit LAWRENCE OF ARABIA beginnt eine Reihe an Restaurierungen,
Umkopierungen oder Neukopierungen des 70-mm-Todd-A-O-Films. Für diesen Titel,
aber auch für SPARTACUS (USA 1960), VERTIGO (USA 1958) und MY FAIR LADY
(USA 1964) werden immerhin Vorrecherchen durchgeführt, die auch auf Material aus
alten Kostüm- und Filmutensilien zurückgreifen. Allerdings sind die Kopierergebnisse,
nicht zuletzt aufgrund des älteren Intermediate-Stocks bei der Duplikatkopierung,
umstritten. Einer der Promotors der LAWRENCE-Restaurierung aber, Regisseur
Steven Spielberg, führt jedoch an: „Nach 20 Jahren sieht ‚Lawrence von Arabien’
besser aus und klingt besser als jeder andere Film, der je zuvor im Kino gezeigt
wurde“.
Twentieth Century Fox bringt seit der Jahrhunderwende ebenfalls, aber in kleiner
Auflage, Neukopierungen seiner 70-mm-Klassiker von überwiegend erstklassig
erhaltenen Originalnegativen heraus. Aus Etatgründen können die
Lichtbestimmungen und Kopiertests offenbar nicht in gewünschtem Umfang
durchgeführt werden, so dass Abweichungen vom Original unübersehbar sind.
Allerdings stellt sich auch die Frage, ob hinreichend, d.h. zur Zeit der Premieren
bereits tätige Filmfachleute heute noch zur Assistenz herangezogen werden können,
die mit klassischer Kopierwerkstechnik und dem spezifischen Look der Filme vertraut
sind.
In der Bewertung diverser Neukopierungen der letzten 3 Dekaden waren es für den
Verfasser zumindest einige Szenen der jüngsten, 2008 gezogenen Kopie von
HELLO, DOLLY! (USA 1969, Todd-AO), die einen Eindruck vom Farb-Original der
klassischen 70-mm-Kopien vermitteln konnte.

Jean-Pierre Gutzeit, 2004 – 2009. Alle Rechte vorbehalten.